Titel
Entfesselte Elemente. Katastrophenbewältigung und Solidarität im Lauf der Zeit


Autor(en)
Reichen, Quirinus
Erschienen
Zürich 2006: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
64 S.
Preis
€ 13,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Anna Bähler

Die Gebäudeversicherung des Kantons Bern feierte im letzten Jahr ihr 200-Jahr-Jubiläum. Zu diesem Anlass realisierte sie gemeinsam mit dem Historischen Museum Bern eine Publikation, die sich mit dem Thema Katastrophenbewältigung in der Schweiz befasst und die in der Reihe «Glanzlichter aus dem Bernischen Historischen Museum» erschienen ist.

In einem kurzen ersten Teil führt der Autor und Historiker Quirinus Reichen ins Thema ein. Er beschreibt, wie die Menschen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit Brände und Naturkatastrophen wie Bergstürze und Überschwemmungen wahrnahmen und wie sie darauf reagierten. Lange waren sie diesen Ereignissen und Gewalten wehrlos ausgeliefert und glaubten, dass die Hand Gottes oder unheimliche Mächte im Spiel waren. Sie suchten Hilfe im Glauben, manchmal machten sie auch Einzelpersonen oder Gruppen für das Unglück verantwortlich. In einem noch sehr beschränkten Ausmass ergriffen sie auch präventive Massnahmen wie die Pflege von Bannwäldern oder die Erstellung von Brandmauern.

Im ausgehenden 18. Jahrhundert suchten Mitglieder von aufklärerisch gesinnten Vereinigungen neue Erklärungsmuster für Naturereignisse und setzten sich auch mit volkswirtschaftlichen Fragen auseinander. Die Oekonomische Gesellschaft Bern schrieb 1787 einen Wettbewerb zur Frage aus, ob Bern eine Brandversicherung brauche. Obwohl die Reaktionen durchwegs positiv waren, fasste der bernische Grosse Rat erst 1806 den Beschluss, eine «Brand-Assekuranz» zu gründen, die am 1. Januar 1807 ihre Arbeit aufnahm. 1928 wurden auch Gebäudeschäden durch Lawinen, Schneedruck, Bergsturz und Überschwemmungen in die Versicherung aufgenommen, 1942 zudem jene durch Hagel. Ausgeschlossen blieben hingegen Kriegs- und Erdbebenschäden. Heute besitzen 19 Kantone eine obligatorische Gebäudeversicherung, die übrigen überlassen das Geschäft privaten Anbietern.

Im weit umfangreicheren Katalogteil öffnet sich ein Bilderbogen vergangener
Katastrophen. Diese sind chronologisch geordnet und reichen von der Zeit des Mittelalters bis in die jüngste Vergangenheit. Jedes Ereignis nimmt zwei Seiten ein: Auf der linken Seite befinden sich seine Beschreibung sowie eine sorgfältige Einordnung in den historischen Zusammenhang, die rechte Seite illustriert den Text. Der Katalog deckt ein weites Spektrum unterschiedlichster Katastrophen ab. Reichen beginnt mit dem Erdbeben von Basel (1359), einem Ereignis von europäischer Bedeutung, das aber erstaunlich wenig Opfer forderte und schnell bewältigt war. Es folgt der Berner Stadtbrand von 1405, dem 600 Gebäude und über 100 Menschen zum Opfer fielen und der damit der grösste Stadtbrand der Schweizer Geschichte war. Gut 100 Jahre später wurde das Bleniotal von einem Grossereignis heimgesucht: Wegen eines Bergsturzes entstand hier 1513 ein See, der zwei Jahre später ausbrach. Die Flutwelle zerstörte 400 Häuser und tötete 600 Menschen. Im Weiteren befasst sich Reichen mit den Bergstürzen von Piuro (Plurs, 1618), Goldau (1806) und Elm (1881), den Bränden von Huttwil (1834), Glarus (1861) und Meiringen (1891) sowie mit verschiedenen Unwetterereignissen und Überschwemmungen (Emmental 1837, Lenk 1930, Brienz 2005). Ihren Platz in der Publikation fanden auch die Explosion des unterirdischen Munitionslagers der Schweizer Armee in Mitholz von 1947, der Lawinenwinter 1951 und der Brand an der Junkerngasse von 1997, der mit einer Schadenssumme von 14 Millionen Franken zumindest für die Gebäudeversicherung als Grossereignis zählte.

In wohltuender Weise beschränkt sich der Katalogteil jedoch nicht auf historischen Katastrophentourismus. In ebenfalls chronologischer Reihenfolge fügt Reichen Gegenstrategien ein, welche die Menschen ergriffen und weiterentwickelten. Eine sehr frühe wasserbautechnische Arbeit, die Überschwemmungen verhindern sollte, war 1714 die Ableitung der Kander in den Thunersee, eine vor allem für die Stadt Thun nicht unproblematische Pioniertat. Weitere Gewässerkorrekturen folgten in der Schweiz erst im 19. Jahrhundert, explizit beschreibt der Autor die erste Juragewässerkorrektion (1869–1886). Zudem behandelt er Massnahmen zur Brandbekämpfung sowie die technische Entwicklung der Löschgeräte, und er thematisiert frühe Formen von finanzieller Nothilfe, die auch im überregionalen und gar internationalen Rahmen spielte, jedoch häufi g nur unter konfessionell Gleichgesinnten. Ausserdem geht Reichen vertieft auf die Gründung der ersten Berner Brandversicherung von 1806 ein. Die vorliegende Publikation bietet somit aus historischer Perspektive eine breite, grosszügig bebilderte, leicht zu lesende Einführung in ein Thema, das es in den letzten Jahren wegen aktueller Ereignisse immer wieder in die Schlagzeilen der Tagesberichterstattung geschafft hat.

Zitierweise:
Anna Bähler: Rezension zu: Reichen, Quirinus: Entfesselte Elemente. Katastrophenbewältigung und Solidarität im Lauf der Zeit, Zürich, Chronos, 2006, 64 S., ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 69, Nr. 4, Bern 2007, S. 313f.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 69, Nr. 4, Bern 2007, S. 313f.

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